06.09.2018 – Kategorie: Branchen

Lebenszyklusanalyse: Ad hoc statt post mortem

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Wissenschaftler am MIT haben ein kostengünstiges Verfahren für die Lebenszyklusanalyse in der Gebäudeplanung entwickelt. Das Besondere: verschiedene Entwürfe lassen sich bereits in frühen Planungsphasen umfassend bewerten.

Wissenschaftler am MIT haben ein kostengünstiges Verfahren für die Lebenszyklusanalyse in der Gebäudeplanung entwickelt. Das Besondere: verschiedene Entwürfe lassen sich bereits in frühen Planungsphasen umfassend bewerten.

Wenn Architekten und Ingenieure ein neues Bauwerk entwerfen, dann steht die Lebenszyklusanalyse des ökologischen Fußabdrucks – wenn überhaupt – erst am Ende des Prozesses. Und dann kann es für größere Änderungen bereits zu spät sein. Nun könnte eine schnellere und einfachere Lösung für eine solche Analyse Abhilfe schaffen und die Analyse von Anfang an zu einem festen Bestandteil des Entwurfsprozesses machen.

Das neue Verfahren, beschrieben im Journal Building and Environment in einem Paper der MIT-Forscher Jeremy Gregory, Franz-Josef Ulm Randolph Kirchain und Joshua Hester PhD ’18 ist so einfach, dass es in die von den Planern und Architekten bereits verwendete Software einfließen könnte und damit eine nahtlose Erweiterung ihres Designprozesses darstellen würde.

Die Lebenszyklusanalyse umfasst die Bewertung der Werkstoffe, der Designelemente, von Lage und Orientierung, von Heizung, Klimaanlagen und anderen energieführenden Systemen und von zu erwartenden Entsorgungsmassen bei Abbruch im Hinblick auf Kosten oder Umweltbelastung. Franz-Josef Ulm, Professor für Civil and Environmental Engineering, Leiter des Concrete Sustainability Hub (CSH) am MIT, sagt, dass eine herkömmliche Analyse erst dann stattfinde, wenn das Gebäude fertig geplant sei, also eher post mortem und nicht im Designprozess. Das wolle man nun korrigieren.

Es gehe darum, die Lücke zwischen der Lebenszyklusanalyse am Ende des Prozesses und ihrer Nutzung durch Architekten und Ingenieure als Designwerkzeug zu schließen. „Die große Frage war: Wäre es möglich, die Lebenszyklusbewertungen in den Entwurfsprozess einzubinden, ohne dabei die Auswahl der Entwürfe allzu stark einzuschränken und auf diese Weise für die Bauplaner unattraktiv zu machen?“ Ulm fragte sich, wie stark die Lebenszyklusanalyse die Flexibilität der Planung beeinflussen würde.

Freiheit der Planung messen

Um diese Aufgabe systematisch anzugehen, hat das Team ein Verfahren entwickelt, mit dem sich die Freiheit, zwischen verschiedenen Entwürfen wählen zu können, quantitativ ermitteln lässt. Es entschied sich für das Maß an „Entropie“, eigentlich einer Zustandsgröße aus der Thermodynamik. Ein System mit einer größeren Entropie zeichnet sich dadurch aus, dass seine Moleküle mehr Möglichkeiten erhalten, sich auf verschiedene Weise anzuordnen. Übertragen auf die Lebenszyklusanalyse wäre größere Entropie also mit mehr Wahlmöglichkeiten gleichzusetzen.

Das neue Verfahren der Lebenszyklusanalyse in frühen Planungsphasen habe nur wenig Einfluss auf die Freiheit planerischer Entscheidungen, so Ulm. Es betrachtet das gesamte Spektrum der Umweltbelastung eines neuen Gebäudes in drei Phasen:

  • der Bau selbst, mit Bewertung der in den verwendeten Werkstoffen verkörperten Energie,
  • Betrieb mit allen Energiequellen für Heizung, Lüftung, Klima und Elektrizität,
  • und Abriss, Entsorgung oder Wiederverwendung am Ende der Nutzung.

Um den Einfluss des Lebenszyklus auf Planungsentscheidungen zu beurteilen, gilt es den Blick auf eine ganze Reihe von Faktoren zu richten. Dazu gehören unter anderem Klima vor Ort (für die Arbeit wurden die Verhältnisse in Arizona und Neu-England als Beispiele unterschiedlicher US-Klimata herangezogen), Gebäudemaße und -lage, Verhältnis von Wänden zu Fenstern an jeder Seite; Materialien für Wände, Fundamente und Dächer, Heizungs- und Klimatisierungsmethode. Mit jedem weiteren festgelegten Kriterium schwindet die potentielle Auswahl, aber nicht viel mehr, als es in einem herkömmlichen Planungsprozess zu erwarten gewesen wäre. Das Programm würde zu jedem Zeitpunkt auch Informationen über viele Dinge liefern, die noch der Definition bedürften. Es stelle ein Auswahlmenü bereit, das ein umweltfreundlicheres Design ermögliche, so Kirchain.  Obschon das Tool vor allem eine reduzierte Umweltbelastung bewirken soll, lässt es sich auch für die Optimierung anderer Kriterien, was zum Beispiel die Baukosten betreffen könnte.

Frühzeitig einsteigen

An das endgültige Schicksal eines Gebäudes zu denken, stehe für Architekten bei der Planung nicht an erster Stelle, so Ulm, verglichen mit Gesichtspunkten wie funktionalen Erfordernissen oder ästhetischen Ansprüchen der Kunden. Wenn man die neue Software aber in den vorhandenen Planungsprozess einbinde, können Architekten stets ihre Designentscheidungen im Hinblick auf das Ergebnis im Auge behalten und entsprechend einfach in frühen Phasen steuern. Im Vergleich zu herkömmlichen Designprozessen lassen sich mit der neuen Lösung vom Gebäude ausgehende Treibhausgasemissionen um 75 Prozent reduzieren, gibt sich Ulm überzeugt.

Derzeit wird das Programm anhand recht einfacher Einfamilienhäuser getestet, Untersuchungen mit größeren Wohnkomplexen oder kommerzielle Gebäuden sollen folgen. Es ist momentan als Stand-alone konzipiert, ein Plug-in für handelsübliche Planungssoftware ist aber laut Kirchain geplant.

Es gebe schon viele Softwaretools, mit denen man die Umweltbelastung bewerten könne, konzediert Kirchain, aber man sehe nur wenige Architekten, die sie auch nutzen. Das liege auch daran, dass die Programme mit dem Ziel eines optimalen Entwurfs zu viel vorschreiben und damit die Optionen einschränken. „Wir denken, dass kein Planer gesagt bekommen will, wie der Entwurf aussehen muss.“  Vielmehr solle es möglich sein, ohne übermäßige Einschränkungen zu planen.

Bild: Fengdi Guo, Graduate student, Civil & Environmental Engineering, arbeitet am Projekt. Bild: Randy Kirchain


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